75 Jahre Zerstörung des Pückler’schen Schlosses
Heute, vor 75 Jahren wurden die Stadtkirche und das unmittelbar daneben erbaute Pückler’sche Schloß am 74. Geburtstag des Grafen Gottfried von Pückler-Limpurg von deutschen Granaten vollständig zerstört. Gudrun Fritz, die Tochter des ehemaligen gräflichen Oberrentamtmanns Ludwig Fritz, erlebte diesen Tag als junge Frau und Bewohnerin des Schlosses mit. Vor wenigen Wochen ist Gudrun Fritz mit 94 Jahren verstorben. Am 20. April 2005 interviewte Stiftungsgeschäftsführer Matthias Rebel die langjährige Bewohnerin des Gräfin-Adele-Hauses anlässlich einer Gedenkveranstaltung zur 60-jährigen Zerstörung der Stadtkirche und des Pückler’schen Schlosses. Er fragte sie, was ihr heute im Abstand zu dieser schweren Zeit des Nationalsozialismus und des Krieges wichtig geblieben sei. Sie antwortete: „Mir ist die Führung Gottes wichtig geworden und dass da viele Wunder passiert sind. Trotz allem Schweren gab es einen wunderbaren Plan. Man hat ja oft nicht gewusst, wie es weitergehen soll. Die Situation am 20. April 1945 im Keller des Schlosses. Wo plötzlich dieses riesenstarke Gewölbe wahnsinnig gewankt hat. Da haben wir wirklich Todesangst ausgestanden. Wir dachten: Es ist zu Ende. Und dann durften wir doch weiterleben. Diese Erlebnisse sind mir immer noch im Gedächtnis. Und eben die Führung Gottes. Doch die Kriegsängste dauerten nur kurz. Was bei mir tiefer gegangen ist, das waren die Jahre der Verfolgung, der Überwachung durch die Gestapo. Dass mein Vater sozusagen fast vogelfrei war. Dass wir nie wussten, ob er wiederkommt, wenn er aus dem Haus ging. Wir fürchteten oft, er werde abgefangen. Dass doch immer ein gewisser Schutz war, das waren wohl die Gebete, auch die der gräflichen Herrschaft. Es war wohl eine Gebetsmauer um uns…Eine Mauer, an der immer gearbeitet wurde, auf die ja auch der Graf und die Gräfin jeden Tag neue Steine mauerten.“ Worte und Gedanken, die bis heute Bestand haben. Eine Gebetsmauer die uns schützt, das brauchen wir auch im Graf-Pückler-Heim, in dieser aktuellen Situation.
Gudrun Fritz hat über ihr Leben im Pückler’schen Schloss ein Buch geschrieben. Aus diesem Buch stammt der nachfolgende Abschnitt, der die Ereignisse um den 20. April 1945 schildert:
„Dies war der Geburtstag Graf Pücklers – und der Adolf Hitlers. Ein wunderbarer Frühlingstag. Blauer Himmel, über und über mit Blüten besäte Obstbäume und goldene Schlüsselblumen in den grünen Wiesen. Selbstverständlich würden wir zum Gratulieren ins Schloss gehen, so dachten wir wenigstens. Doch es kam anders. Zunächst schien alles ruhig. Gleich in der Frühe machte sich mein Vater auf, den von uns bestellten Rosenstrauß für Erlaucht abzuholen, drüben in der Gärtnerei Bechstein. Er nahm den Weg über den Kochersteg am Westende des Schlossparks. Unbehelligt gelangte er hinüber, aber als er zurückkehrte, hatten sich amerikanische Soldaten am Steg postiert und ließen ihn nicht passieren.
Vergeblich mühte sich Vater um sein längst vergessenes Englisch. Es fiel ihm, wie er später erzähl-te, nur das Wort „handkerchief“ ein, was aber hier einfach nicht gepasst habe (Taschentuch). Mit seinem Rosenbukett in Händen redete er auf das Militär ein und versuchte, in Deutsch klarzumachen, dass der Graf Geburtstag habe und dies die hierzu vorgesehenen Rosen seien. Wahrscheinlich nahm Vaters Schutzengel die Sache in die Hand, oder die Amerikaner dachten, den armen Irren, der bei Kampfhandlungen mit Rosen spazieren geht, könne man laufen lassen. Sie gaben Vater plötzlich den Weg frei und somit gelangten die Rosen doch noch in die Hände des Geburtstagskindes. Allerdings ohne uns übrigen der Familie.
Bald spitzte sich die Situation aufs Neue zu. Um die Mittagszeit begannen wieder Artillerie und Panzerkanonen zu reden. Von der anderen Seite des Kochers kamen Schüsse, abgesandt von einer deutschen SS-Truppe. Jetzt wurde uns klar, dass es zum erbitterten Kampf kommen konnte.
Deutsche Soldaten drangen immer wieder über den Kochersteg (die große Brücke war ja bereits gesprengt), um die Stadt zu verteidigen. Schließlich sprengte der Feind den Steg (einst von Graf Pückler erbaut), der mit großem Krachen in unserer nächsten Nähe in die Luft flog. Ein riesiger amerikanischer Panzer hatte sich neben unserer Kellertüre platziert.
Wenn seine Kanone loslegte, fühlte man sich einer Ohnmacht nahe. Hier, in dem engen Gang zwischen Schloss und Kirche hatte das Ungetüm gute Deckung. Jedoch fühlten wir uns dadurch gefährdet und in der Falle sitzend, in dem Keller, der nur den Ausgang hinaus in das Getümmel hatte. (…)
Vater, der im ersten Weltkrieg als junger Soldat gekämpft hatte und bei Arras schwer verwundet worden war, sagte, kein Trommelfeuer bei Feindangriffen sei ihm so unheimlich gewesen wie diese Beschießung. Der Mensch fühle sich nie so ohnmächtig wie dann, wenn er keine Möglichkeit zur Gegenwehr habe.
Man verlor allmählich das Gefühl für Zeit und glaubte, schon tagelang im Unterirdischen zu sit-zen. Sooft die Artillerie der deutschen Truppe von jenseits des Kochers herüberschoß, gaben auch die Amerikaner Feuer. Die Abstände dazwischen waren unregelmäßig. Einige schwere Schläge, dann wieder spannungsgeladene Ruhe.
Unser Keller besaß ein mächtiges Gewölbe. Trotzdem wankte es, als plötzlich ein schwerer Einschlag das Schloss traf. Das elektrische Licht ging aus, Staub wirbelte in der Luft und drang in die Nase. Weitere Einschläge folgten. Danach eine lange Stille. War über uns überhaupt noch ein Gebäude? Wie sah es droben aus?
Mutter hielt es nicht mehr aus. Sie stieg die Treppe des Kellerhalses hinauf und legte ihr Ohr ans Schlüsselloch. Von draußen vernahm sie ein Geräusch wie das Prasseln eines Wolkenbruchs. „Es regnet!“ rief Mutter in die Tiefe. Sofort kam Vater angesatzt. „Unmöglich“, meinte er und riss ahnungsvoll die schwere Kellertüre auf. Da sahen wir das schreckliche Schauspiel: Die Kirche, drei oder vier Meter nur vom Schloß entfernt, stand in Flammen. Wie ein Untier, gegen das es keine Waffe gibt, zerstörte das Feuer unser Gotteshaus. Die Flammen hatten bereits auf das Schloss übergegriffen, auf den Teil, der unser Wohntrakt war. Wir mussten sofort heraus! Vater übernahm das Kommando. Jeder ergriff sein Fluchtgepäck, das aus Rucksack und Koffer bestand und schon viele Wochen immer griffbereit war. Walburg hatte noch zusätzlich ihren Geigenkasten in der Hand, Vater ebenfalls. So sprangen wir nun durch den Funkenregen. (…)
Meine Schwester und ich pirschten uns auf Vaters Geheiß vor bis zum herrschaftlichen Keller, um nachzusehen, ob man dort die Lage erkannt hatte. Als wir die große Kellertüre öffneten, um Meldung vom brennenden Schloß zu machen, fanden wir zunächst kein Gehör. Die ganze Hausgemeinde, Graf, Gräfin, die Dienerschaft und alle im Schloss Evakuierten, insgesamt etwa dreißig Personen, sangen in ruhiger Andacht das schöne Lied:
So nimm denn meine Hände und führe mich
bis an mein selig Ende und ewiglich!
Ich mag allein nicht gehen, nicht einen Schritt;
wo du wirst gehn und stehen, da nimm mich mit.
Es war unmöglich, Aufregung in die Versammelten zu bringen. Endlich kam ich zu Wort. Tiefe Stille. Niemand sprang auf, niemand sagte etwas. Frau Gräfin war die erste, die reagierte. Sie sag-te, das habe ich bis zum heutigen Tag im Ohr: „Ach nein!“ Es klang verwundert und schob gleich-zeitig die drohende Wirklichkeit zur Seite, weil es zu schwer war, um in diesem Augenblick bedacht und verkraftet zu werden.
Langsam kam Bewegung in die Gemeinde. Jemand sagte, was zu tun sei, doch weiß ich nicht mehr, ob es Erlaucht war oder Herr Paul. Meine Schwester und ich verließen den Keller.
Als wir wieder im Freien standen, bot sich uns ein noch schlimmeres Schauspiel der brennenden Kirche. Mit Windeseile kletterten die Flammen hoch und schlugen auf der Spitze des Turmes nach außen. (…)
Nachdem nun die Schloßbewohner gewarnt waren, versuchte Vater noch in dem Tohuwabohu unseren Keller, in dem wir vieles untergebracht hatten, zu räumen. Zunächst wollten wir die Sachen in die Halle des Schlosses bringen, denn das Feuer fraß sich von unserer Wohnung vor zum Mittelteil des Schlosses. Leider war alle Anstrengung vergeblich. Das amerikanische Militär riegelte das Ge-lände ab, man musste geschehen lassen, was geschah. An Löschen war nicht zu denken, denn die Zivilbevölkerung durfte die Keller nicht verlassen. (…)
Die nun folgende Nacht – vom 20. auf 21. April – war eine „Nacht voller Nacht“. Ein anderer Aus-druck fällt mir nicht ein. Wir wussten nicht, wie es wirklich stand, was aus dem Feuer werden würde. Es konnte ja die ganze Stadt abbrennen. Besonders Mutter litt am meisten, da ihr krankes Herz sich durch die Aufregungen verschlimmerte. Wie würden die Herrschaften mit dem Unglück fertig werden? Würden die Kampfhandlungen fortgesetzt werden? Nachdem Kirche und Schloss in Brand gesteckt waren, hatte der Beschuss aufgehört.
Durchlaucht und Erlaucht hatten im Feierabendheim der Großheppacher Schwesternschaft Aufnahme gefunden. Sie konnten in dieser für sie so schweren Nacht nirgends geborgener sein als dort. Auch in den folgenden Tagen bot ihnen dieses Heim Obdach.
Als diese Nacht endlich vorübergeschlichen war, versuchten wir am frühen Morgen, aus dem Keller zu kommen, um uns in Frau Gaides Wohnung einen Kaffee zu kochen. Leider war auch dieser Keller nur von außen zu erreichen, so dass uns die Amerikaner unser Vorhaben vereitelten.
Erst um 10 Uhr, so lautete die Bestimmung, hatte die Zivilbevölkerung für eine Stunde Ausgang.
Wir mussten uns, die wir schon lange nichts mehr gegessen und getrunken hatten, fügen. Aber siehe da, der Feind hatte Erbarmen mit uns. Die Soldaten machten uns Kaffee. Das möge Gott ihnen lohnen, wenn sie noch am Leben sind.
Es war eine Erlösung, als es 10 Uhr wurde. Nach der drangvollen Enge in dem eiskalten kleinen Keller (es war der Weinkeller des Hauses), wo wir die ganze Nacht sitzend und in völliger Dunkelheit verbracht hatten, sehnten wir uns nach frischer Luft. Vater eilte, begleitet von meiner Schwester, sofort zum Schloss.
Dieses allerdings fand er nicht mehr vor. Beim Anblick der rauchenden Trümmer des einst so großen Komplexes ergriff ihn eine namenlose Erschütterung.
Erlaucht! Er war jetzt sein einziger Gedanke und seine große Sorge. Da trat der Graf aus dem Kutscherhaus, das als einziges vom Feuer verschont geblieben war. Er war ihm also bereits zuvorgekommen auf dem Brandplatz. Wortlos gaben die beiden Männer einander die Hand. Und es war wieder, wie schon einmal, ein schicksalschwerer Händedruck.
Vater wollte etwas sagen, sein Mitgefühl in Worte fassen, doch suchte er vergeblich nach dem richtigen Ausdruck. Hier war Schweigen besser angebracht.
Es muss ein bewegender Augenblick gewesen sein, als die beiden einander auf der Brandstätte gegenüber standen, bis ins Innerste aufgewühlt, und Graf Pückler – blass, übernächtigt und mit Tränen in den Augen – nach Augenblicken des Schweigens Vaters Hand nahm und sagte: „Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen, der Name des Herrn sei gelobt!“
Mit diesen Worten aus dem Buch Hiob beugte er sich seinem Gott und gab ihm das wieder geforderte Lehen zurück als ein Opfer. Dann deutete er mit der Hand nach oben zu den beiden noch stehen-gebliebenen Innenwänden der Bibliothek. Dort waren noch, obwohl von der ganzen Trümmerstätte sonst nichts mehr kenntlich war, die aufgemalten Wandsprüche zu lesen:
Wir haben hier keine bleibende Stadt, aber die zukünftige suchen wir. (Hebr. 13,14)
Auf der anderen Wand: Siehe, ich komme bald. (Offb. 22)
Ganz sicher sah Erlaucht in diesen Worten ein Zeichen, eine Botschaft seines Herrn an ihn, die ihm Hilfe sein sollte. Es war kein Kinderspiel für ihn, sein Schloss mit allem Inhalt zu verlieren, sondern eine ungeheure Herausforderung an die Echtheit seines Glaubens.
Es musste durchgerungen sein.
Die Worte Graf Pücklers lesen sich leicht und vielleicht auch schön. Aber was dahinter stand, war Überwindung, und diese ist ihm nicht in den Schoß gefallen, das konnte man spüren.
Mutter besuchte in jener Ausgehstunde Frau Gräfin. Durchlaucht hatte in der Nacht eine Herz-schwäche erlitten, obwohl sie seither nie über Herzbeschwerden zu klagen hatte.
Es war also auch für sie kein leichtes, mit diesem Erlebnis fertig zu werden. Trotzdem sagte sie tapfer zu Mutter, als sie voll Mitleidens war: „Es ist ja alles vergänglich, jetzt ist er weg, der Plunder“.
Fast klingt es leichtsinnig, aber eine solche Auslegung der Worte wäre falsch. Dahinter stand der Glaube, der weiß, welcher Stellenwert vergänglichen Gütern zukommt, und mehr noch: der Verlust konnte als Chance gesehen werden, nicht am Besitz hängen zu bleiben auf dem Weg zur Unvergänglichkeit. Jedoch auch für Durchlaucht war eine solche Haltung keine fromme Routine und Selbstverständlichkeit, auch sie musste darum kämpfen.
Beinahe fassungslos war Mutter, als Frau Gräfin sagte: „Auch Sie haben ja alles verloren und Sie verloren mehr als wir“. Mehr? Es war so gemeint, dass wer viel besitzt, nicht die enge Beziehung zum Einzelnen haben kann. Aber sicher ist, dass der ganze Verlust immer erst offenbar und spürbar wird, wenn das Leben wieder seinen gewohnten Gang geht. Da gibt es lange Zeit ein tägliches Vermissen und auch ein erneutes Hergeben.
Doch ebenso sicher ist, dass die gräflichen Herrschaften sich täglich darunter stellten. Nie, gar nie hat jemand von Erlaucht oder Durchlaucht, weder die Angestellten noch sonst ein Mensch, je ein Wort der Klage über den großen Verlust gehört Und sie hätten noch viele Jahre Zeit zum Klagen gehabt.“